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Altersglimmen
Wohl dem, dessen Haupt sich schon in jungen Jahren seinen Weg himmelwärts durch die Frisur bahnt. Wohl der, die schon im Spiegel in der Disco ihre ersten Fältchen entdeckt. Gesegnet der jung Ergraute! Begnadet die früh an Hinfälligkeiten Herumdokternden. Denn ihnen bleibt erspart, allzu lange der Illusion zu verfallen, jung, immer jung zu sein.
Kritisch wird die Sache, wenn die Zehnerstelle der Altersringe auf einen Wert springt, der keine Ausreden mehr zulässt. Neunundvierzig Kerzen hält eine gewöhnliche Geburtstagstorte locker aus. Bei fünfzig ächzt sie unter Wachsgewicht und Flammenhitze und verwandelt sich ohne naheliegenden Feuerlöscher in eine Gefahr für Haus, Hof und Leben.
Lange tuckert der, dessen Augen für die Anzeichen körperlichen Verfalls verschlossen blieben, läppisch von einem Jahr zum anderen, als gäbe es Jahre im Überfluss. Nichts, was man zu Ende bringen müsste, nichts, was sich nicht auf irgendwann verschieben ließe.
Doch kaum wird die magische Grenze überschritten, läuft der Zähler plötzlich schneller. Die nächsten dreihundertfünfundsechzig Tage fließen durch die Finger wie Wasser. Keine Chance, sie festzuhalten. Du rufst „Halt“, doch läufst weiter im sprichwörtlichen Hamsterrad. Du könntest auch gar nicht anders, denn wenn du es nicht weiterdrehst, dreht das Rad dich und schleift dich mit wie nasse Wäsche in der Waschmaschinentrommel.
Abspringen? Keiner hat uns auf diese Situation vorbereitet. Pubertät und Midlife-Crisis, okay, davon redet jeder und die Buchregale biegen sich unter der dazugehörenden Literatur. Aber die Krise, die man erlebt, wenn man eines Tages aufwacht und über Nacht alt geworden ist, wer redet davon? Vielleicht deshalb nicht, weil das Altern ab dem Punkt X viel zu schnell geht. Und weil es sich fast unbemerkt einschleicht. Oder, weil man es aushält. Wie anderes Unliebsames. Vielleicht sollten wir die Bremse drücken und trotz Glatze, grauer Haare, Falten und Wehwehchen fühlen, dass im Herzen unsere Jugend bis ans Ende glühen kann.
Der Patient, der die Heilung auf nach dem Tod verschob.
Erst bist du jung und doof. Quetschst dir mal einen Finger, holst dir was Tropisches, trinkst Kaffee literweise, bleibst in verqualmten Buden endlos wach und probierst, was das Hirn kirre macht. Trotzdem alles eitel Wonne.
Dann bekommt ihr Kinder und einen Hund, du wirst solider, isst weniger Schweinereien, drehst mit Kinderkarre und Köter täglich Runden durch den Regen. Und dann, dann fällt dir mal was auf. Nichts Beängstigendes. Dein Arzt meint, das hab‘ ich auch, das geht nicht weg. Mach dies und das, dann wird’s vielleicht besser.
Es bleibt. Irgendwas anderes kommt dazu. Mag sein etwas im Untergestell oder in der Schulter. Massage? Ja, gern! Physiotherapie? Okay, wenn ich selbst nichts machen muss. Fitnessstudio? Im Geheimen hast du zudem mal gedacht, du hättest eine Meise. Aber zum Psychiater?
Etwas später die Augen. Eine Brille fürs Fernsehen. Eine fürs Auto. Dann eine für den ganzen Tag. Du sitzt mit Kollegen im Gasthaus und es scheint, als drängten die Worte nicht mehr vollständig vom Ohrwaschel ins Sprachzentrum deines Oberstübchens.
Im Spiegel siehst du noch den, der dir aus dem ersten Führerschein entgegensah. Aber dieser Schein trügt. Ein Blick aufs Ausstellungsdatum sagt: Du bist schon zwei- bis dreimal älter als damals.
Die Lösung? Besseres Verdrängen, effizientere Schmerzmittel? Nein, was zu tun wäre, ist klar. Doch heute ist keine Zeit dafür. Ich muss noch die Nachrichten ansehen, dann essen und einen Blick ins Facebook werfen.
Aber morgen geht’s los, oder übermorgen. Das wird sonst immer schlimmer. Oder könnte es besser werden? Obwohl man älter wird? So geht es weiter. Statt seinen Körper als Tempel zu erkennen (des Rastafaris vielleicht einzig leuchtende Erkenntnis!), in dem die Seele sich eingerichtet hat, bleibt er deren schlecht gewartetes Vehikel. Man ist froh, solange es noch ruckelt. Reparaturen verschiebt man auf die Zukunft. Nur: Wenn diese Kiste wirklich kaputtgeht, kann man sich auch bei noch so aufrichtiger Reue keine neue mehr kaufen.