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Das Messer in der Lade
Der Glückliche wandelt zufrieden durchs Leben und wundert sich über das Unglück der anderen. Meist ist es nicht schwer zu erkennen, was bei diesen anderen krumm läuft und er ist versucht, ihnen zuzurufen: „Schaut mich an, ich bin glücklich, macht’s wie ich, ich liege richtig.“
Bis der Tag der großen Abrechnung kommt. Der kommt unverhofft. Ohne Ankündigung. Wie ein unbarmherziges Messer schneidet er sich in dein Fleisch. Und dieses Messer sagt: „Was wunderst du dich, ich bin immer schon dagewesen. Hier ist das Resultat aus all den Jahren, in denen du es geschafft hast, mich vom Pelz zu halten.“ Allein, du warst in diesen Jahren, von denen das Messer erzählt, ziemlich halbherzig, hast weggesehen und weggehört, nicht nur seine Worte, auch seine Existenz verharmlost. Und warst einst froh, als das spitze Ding endlich gut verstaut in einer sicher versperrten Schublade landete und sich nicht mehr regte, noch argumentierte, noch aufzeigte, noch drohte.
Aber irgendjemand fand deren Schlüssel. Jemand findet ihn immer. Dieser Jemand öffnet die Lade und sieht das Messer. Das ist genau so spitz und scharf wie damals. Der Finder ist der Erste, der sich dabei schneidet. Tief und blutig. Schmerz und Wut vereinen sich und er kommt zu dir mit diesem Messer und während seiner Rede zeigt er mit dessen Spitze unablässig auf dich.
Du jammerst und sagst: „Nein, ich wollte dich nicht verletzen, nichts verschweigen, nichts unter den Teppich kehren, nicht deine Hoffnung rauben, nicht erschrecken. Nur Ruhe und Harmonie wollte ich, dich schonen, dir die Wirklichkeit ersparen – und das Messer wegsperren.“
Aber vielleicht hättest du damals vor vielen Jahren schon vom Messer sprechen müssen, es zeigen und seine Gefahr und auch seinen Wert. Jetzt ist es zu spät. Neue Wunden sind zu heilen. Wenn sie denn noch zu heilen sind.
Geben wir das Messer danach wieder in eine gut versperrte Lade? Oder lernen wir vielleicht, es diesmal draußen zu lassen und mit dem darüber zu sprechen, der darüber Auskunft will?