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Am nackten Neid nagen.
Manche Dinge mag man nicht an sich. Und tunlichst versuchen wir, sie aus unserem Eigenbild zu vertreiben. Schlimmer als krumme Nasen, Krampfadern und dicke Bäuche sind dabei niedrige Instinkte, die wir nicht an uns lieben. Neid zum Beispiel.
Ärgerlich, wenn dieses Gefühl nicht mehr zu leugnen ist, wenn es überhandnimmt und ins Bewusstsein dringt. Dabei entsteht Neid meist nur gegenüber Mitmenschen, zu denen man eine gewisse Verbindung hat. Freunde, Nachbarn, Branchenkollegen, frühere Mitschüler, Kameraden aus der Arbeit, ein ungeliebter Verwandter. Dann zieht ausgerechnet einer dieser Deppen einen Erfolg ans Land. Könnte ja Grund zur Freude sein. Aber selber sieht man sich dastehen mit abgesägten Hosen. Ein durchschnittlicher Versager mit unerkannten Talenten.
In jungen Jahren kann Neid Ansporn sein. Aber wer den Lebenszenit schon überschritten hat, fragt sich, ob da wohl noch was zu reißen sein wird, wenn es in all den Jahren nicht geschafft wurde, wann dann doch endlich das Talent sichtbar würde und Früchte trüge, wann Ruhm, Ehre und Geld einbrächte.
Der Zug scheint abgefahren. Glanz und Gloria lassen den anderen erstrahlen. Mittelgrau bleibt die eigene Fellfarbe. Schleppend der Alltag. Ernüchternd der Kontostand.
Doch mit etwas Anstrengung müsste es noch zu schaffen sein! Was der Depp kann, kann ich auch. Positiv denken, Ärmel raufkrempeln, Motivationsvideos ansehen! Was haben die gefressen an dem Typen, seinem vorgeblichen Charme und seiner vorgeblichen Leistung? Alles doch unausgegoren.
Wir nehmen die Messlatte, stellen uns auf die Zehenspitzen und heben die Schultern, um groß zu wirken. Doch es ist der falsche Zollstock. Der Richtige liegt von uns unentdeckt im hintersten Stübchen unserer Seele. Er misst uns an anderem. Nichts, auf das wir uns gegenseitig neidisch sein müssten. Es ist somit weniger wichtig, was wir bei dieser Messung von der Skala ablesen können, sondern, dass wir diesen Zollstock überhaupt mal entdecken, bevor diese Reise durchs Leben zu Ende geht.
Aus den Augen verloren
Wo sind sie? Sie wohnen im hintersten aller Hinterstübchen im unteren Großhirn und haben einen hübschen Zweitwohnsitz links hinter der rechten Herzklappe. Aber gesehen haben wir sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
Irgendwann waren sie uns wichtig. Sie begleiteten uns auf dem Schulweg, flüsterten uns was ein, wenn der Lehrer was fragte und mit dem Bambusstock nervös auf das Pult klopfte, und wir bauten gemeinsam die schönsten Ploder in der Ach. Später dann ging’s gemeinsam auf den Jugendtanz ins Pfarrheim oder in den Schwanen, um mit unerreichbaren Schönheiten vom Riedenburg und anderer Schulen „Schleicher“ tanzen zu dürfen. Zwischendurch ließ man sich Dinge einfallen, die selbst der Stadtpolizei nicht egal waren.
Man schritt so von Tag zu Tag und Jahr zu Jahr und plötzlich hatte man Kinder, Arbeit, eine Hypothek und fünf Katzen. Man sah sich mal um, aber da waren sie schon weg, die Freunde von früher.
Nur manchmal drangen Nachrichten durch. Der eine soll erfolgreich in Amerika geworden sein, ein anderer landete verrückt in der Valduna. Der, von dem man glaubte, er komme mal ganz groß raus, hat einen Idiotenjob. Ein anderer, dem man’s nie zutraute, sei nun ein großes Tier. Ein paar sind dicker, grauer, schütterer geworden. Die meisten sind so stinknormal wie man selbst. Einige, nicht wenige, sind gestorben. Jung, zu jung. Unfälle, Drogen, Selbstmord. – Unglaublich.
Wenn du innehältst und die Türen öffnest in diese hintersten Hinterstübchen deines Gedächtnisses, dann siehst du sie. Dutzende sind es, die deine Wege gekreuzt hatten und die du deine Freunde nanntest. Im Grunde deines Herzens sind sie es immer noch. Egal ob lebend, tot, verrückt oder normal. Auch wenn wir sie nie mehr sehen werden, sie wohnen in uns mit all den gemeinsamen Zeiten und schenken allein dadurch, dass wir sie erinnern, unserem Leben Augenblicke neuerwachten alten Glücks.